Koan Kenan 11FREUNDE

Unterkante der Latte, Pfosten, drin! Ein Tor, wie man es selten sieht und eins, das die fehlende Kommunikation in der deutschen Defensive aufzeigte. Eine Flanke flog am zu zentral stehenden Benjamin Henrichs vorbei und fand Kenan Yildiz. Leroy Sané war nicht rechtzeitig mit zurückgerückt, sodass der 18-jährige Deutsch-Türke völlig freistehend den Ball so dermaßen in den Winkel jagte, dass man den Eindruck hatte, es handle sich um etwas Persönliches. Und das ist nicht ausgeschlossen. Denn dieses Tor zeigte auch die fehlende Kommunikation des DFB mit dem Torschützen auf: Yildiz, der den 2:1‑Treffer für die Türkei gegen die deutsche Nationalmannschaft erzielte, hätte nämlich auch für Schwarz-Rot-Gold auflaufen können. Das Tor feierte er mit ausgestreckter Zunge, als wollte er sagen: Das habt ihr jetzt davon! Doch nicht nur der DFB hätte diesen Verlust verhindern können.
Abschied von den Bayern
Geboren wurde Kenan Yildiz in Regensburg und durchlief zehn Jahre lang die Akademie des FC Bayern München – und das erfolgreich: Yildiz war meistens Kapitän und Leistungsträger seiner jeweiligen Mannschaft und entwickelte eine wertvolle Flexibilität. So kam er auf allen vier Positionen in der Offensive zum Einsatz. Ob links, rechts, als Stürmer oder Zehner: Er besitzt die Fähigkeit, mit seiner Dynamik, seinem starken Abschluss und seiner Einsatzfreude dem Spiel auf vielfältige Art und Weise seinen Stempel aufzudrücken. So brachte es Yildiz in der Saison 2021/22 auf sechs Tore und acht Vorlagen in 20 Partien. Doch dann kam der Sommer, Vertragsverhandlungen standen an und es gab unüberbrückbare Differenzen. Der damalige Sportchef Hasan Salihamidzić sprach danach von „finanziellen Forderungen, denen wir nicht entsprechen wollten und konnten“. Eine fahrlässige Entscheidung oder die nachvollziehbare Reaktion auf geldgierige Berater und Jugendspieler? Lothar Matthäus jedenfalls spricht von Ersterem und kritisiert Brazzo: „Er hat vielleicht nicht den Job gemacht, den der ein oder andere gemacht hätte.“
Kenan Yildiz wird das mittlerweile egal sein. Er wechselte nach den gescheiterten Verhandlungen mit dem deutschen Rekordmeister zum italienischen Pendant Juventus Turin. „Es war komisch, nach einer so langen Zeit bei den Bayern zu gehen. Ich habe intensiv über diesen Schritt nachgedacht. Juventus hat mir die beste sportlichen Perspektive aufgezeigt, daher war es der richtige Weg“, wird Yildiz in der Sportbild zitiert. Bisher wird er diese Entscheidung nicht bereuen: Der damals 17-Jährige spielte sich in der U23 der Bianconeri fest, flog im Sommer mit den Profis ins Trainingslager und erarbeitete sich zuletzt fünf Einsätze in der Serie A. Meistens als zweite Spitze neben einem gewissen Dusan Vlahović oder Federico Chiesa. Lob bekam er von seinen Mitspielern und von Coach Massimiliano Allegri, der seinem Schützling eine „brillante Zukunft“ prognostiziert. Für Yildiz geht derzeit ein Traum in Erfüllung: „Ich habe diese Spieler als Fan im TV verfolgt und jetzt bekomme ich Tipps von ihnen. Das macht unheimlich viel Spaß.“
Jugend forscht – nicht mehr beim FCB
Ob es ihm jetzt weniger Spaß machen würde, diese Tipps von Harry Kane oder Leroy Sané zu bekommen, ist die eine Frage. Ob er bei Bayern überhaupt an diesen Punkt gekommen wäre, eine andere. Lange waren die Münchner ein Paradebeispiel für gute Jugendarbeit und bildeten Hochkaräter wie Thomas Müller, Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Toni Kroos oder Mats Hummels aus, die beim WM-Titel 2014 eine Achse bildeten. Doch seitdem ging die Anzahl erfolgreicher Münchner Jugendspieler stark zurück. Jamal Musiala ist seit vielen Jahren der Erste, der sich nachhaltig bei den Profis durchsetzen konnte. Andere fraglos talentierte Spieler wie Paul Wanner oder Josip Stanišić kamen auf zu wenig Einsatzzeit und wurden deshalb verliehen. Ein bekanntes Problem, das die Verantwortlichen nun verstärkt angehen wollen. So verlängerten die Bayern im Sommer zwar mit Campusleiter Jochen Sauer, gaben aber den klaren Auftrag mit: „Wir streben eine engere Vernetzung sowie eine stärkere Durchlässigkeit an. Es sollen mehr Talente den Sprung in den Profifußball schaffen.“ Dieser Prozess braucht seine Zeit. Es ist also zumindest fraglich, ob Kenan Yildiz sich überhaupt derart in den Fokus gespielt hätte, wenn er bei den Süddeutschen geblieben wäre.
Versäumnisse des DFB
Wohl außer Frage steht, dass er bei einem Verbleib bei den Bayern mehr im Fokus des DFB gewesen wäre. Dieser hatte bis Oktober noch die Möglichkeit, an Yildiz heranzutreten. Mehr noch: Laut Sport1 habe sich das Management des Spielers sogar Anfang Oktober mit der Frage an den DFB gewandt, ob Interesse an Yildiz bestehe – und handelte sich offenbar eine Absage ein. Resultat: Am 12. November gab er sein Debüt für die türkische A‑Nationalmannschaft, ohne jemals vor eine Wahl gestellt worden zu sein. Yildiz selbst sagte der Bild: „Deutschland ist nie auf mich zugekommen, hat mich nie kontaktiert. Ich hätte mich mit einer Anfrage auseinandergesetzt, es gab aber keine.“ Glaubt man dem Ex-Trainer der Türkei und der deutschen U21, Stefan Kuntz, hätte aber auch eine solche wahrscheinlich nicht viel geändert: „Durch die familiäre Bindung geht die Tendenz der Spieler oft dahin, für die Türkei zu spielen. Das Umfeld beeinflusst mit einer hohen Identifikation für das Land.“ Zudem sei es in der türkischen Auswahl einfacher, auf Einsätze in der A‑Nationalmannschaft zu kommen als in der deutschen. „Diese Kombination ist schwer zu schlagen“, so der 61-Jährige. Trotz all dieser Argumente besteht sogar noch die theoretische Chance eines Verbandswechsels: Nach neuen FIFA-Regularien darf ein Spieler diesen nun auch nach drei A‑Länderspielen noch vollziehen, solange er beim ersten Einsatz unter 21 Jahre alt war – Yildiz passt mit seinen zwei Länderspielen und 18 Jahren also in das Anforderungsprofil. Doch dieses Szenario scheint nur Wunschdenken zu sein.
Obwohl letztendlich beim DFB wohl niemand etwas an der Tatsache hätte ändern können, dass Yildiz in Zukunft für die Türkei aufläuft, bleibt der Eindruck einer verpassten Chance. Und bei jedem Unterkante-Latte-Pfosten-drin-Tor von Yildiz wird man sich bei den Verantwortlichen fragen müssen: Hätten wir es nicht doch versuchen müssen?
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